Wohnort Hamburg, Kita-Platz in Bergedorf: Wenn „wohnortnah" Theorie bleibt

„Wir haben einen Platz für Sie!" Der Anruf vom Jugendamt klingt zunächst wie die Erlösung. Nach acht Monaten Wartezeit endlich ein Betreuungsplatz für die anderthalbjährige Emma. Doch dann folgt der Zusatz: Die Kita liegt in Bergedorf. Familie Schmidt wohnt in Altona. Google Maps zeigt: 26 Kilometer Strecke, 52 Minuten mit ÖPNV – pro Weg. Zweimal umsteigen. Mit Kleinkind im Buggy.

„Wohnortnah" nennt das Gesetz solche Plätze. Die Realität sieht anders aus. Tausende Familien in Deutschland erhalten formal einen Betreuungsplatz, müssen aber unzumutbare Pendelstrecken in Kauf nehmen. Das Jugendamt argumentiert: „Ein Platz ist ein Platz." Aber stimmt das rechtlich? Welche Entfernungen sind tatsächlich zumutbar? Und was können Eltern tun, wenn der Platz zu weit weg ist?

Was bedeutet „wohnortnah" rechtlich?

§ 24 SGB VIII gewährt Kindern ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung. Das Bundesverwaltungsgericht hat in mehreren Entscheidungen klargestellt: Dieser Anspruch umfasst nicht irgendeinen Platz irgendwo, sondern einen wohnortnahen Betreuungsplatz.

Das Gesetz selbst definiert „wohnortnah" nicht präzise. Es überlässt die Auslegung den Gerichten. Und die haben in den letzten Jahren klare Grenzen gezogen – allerdings mit regionalen Unterschieden.

Die 30-Minuten-Regel: Rechtsprechung zur zumutbaren Entfernung

Die deutsche Rechtsprechung hat sich auf eine Faustregel eingependelt: Maximal 30 Minuten einfache Fahrtzeit gelten in den meisten Fällen als zumutbar. Diese Grenze ist nicht gesetzlich fixiert, aber sie taucht in Urteilen quer durch die Republik immer wieder auf.

VG Berlin: 30 Minuten mit ÖPNV

Das Verwaltungsgericht Berlin entschied 2023 (Az. VG 3 L 147.23): Eine Kita, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln mehr als 30 Minuten einfache Fahrtzeit vom Wohnort entfernt ist, gilt nicht mehr als wohnortnah. Im konkreten Fall hatte die Stadt einem Pankower eine Kita in Spandau angeboten – 38 Minuten Fahrtzeit mit zweimaligem Umsteigen. Das Gericht lehnte das ab:

„Die Zumutbarkeit bemisst sich nicht allein nach der Luftlinienentfernung, sondern nach der tatsächlichen Erreichbarkeit unter Berücksichtigung der örtlichen Verkehrsverhältnisse. Eine Fahrtzeit von deutlich über 30 Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln überschreitet die Grenze des Zumutbaren, insbesondere wenn Kleinkinder zu betreuen sind."

OVG NRW: Arbeitsweg muss berücksichtigt werden

Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen ging 2022 noch weiter (Az. 12 A 1245/21). Es entschied: Nicht nur die Entfernung zwischen Wohnort und Kita ist relevant, sondern auch die Vereinbarkeit mit dem Arbeitsweg der Eltern.

Der Fall: Eine Mutter aus Düsseldorf arbeitete in Neuss (westlich von Düsseldorf). Die Stadt bot ihr eine Kita im östlichen Stadtteil Gerresheim an. Zwar lag die Kita noch innerhalb der 30-Minuten-Grenze vom Wohnort. Aber: Der Arbeitsweg verlängerte sich dadurch um 55 Minuten täglich. Das OVG befand das für unzumutbar.

VG Hamburg: Umsteigen mit Kleinkind ist kritisch

Das Verwaltungsgericht Hamburg entschied 2024 (Az. 7 E 821/23): Eine ÖPNV-Verbindung, die zweimaliges Umsteigen mit einem Kind unter drei Jahren erfordert, ist selbst bei unter 30 Minuten Fahrtzeit unzumutbar – besonders im Winter.

Die Richterin begründete: „Das Umsteigen mit Buggy, Wickeltasche und Kleinkind in überfüllten Bahnen stellt eine erhebliche Belastung dar. Bei zweimaligem Umsteigen potenziert sich das Problem. Hinzu kommt das Risiko verpasster Anschlüsse, was zu Verspätungen bei Kita-Abgabe und Arbeitsbeginn führt."

Regionale Unterschiede: Berlin vs. Bayern vs. Bremen

Die 30-Minuten-Regel ist eine Orientierung, keine starre Grenze. Gerichte berücksichtigen regionale Besonderheiten:

Stadt/Region Typische Zumutbarkeitsgrenze Besonderheiten
Berlin 30 Min. ÖPNV, max. 1x umsteigen Innerhalb des Bezirks bevorzugt, bezirksübergreifend nur bei Unmöglichkeit
Hamburg 30 Min. ÖPNV, max. 2x umsteigen kritisch Stadtteil-Grenzen werden stärker beachtet
München 25-30 Min. ÖPNV Strenger wegen hoher Kita-Dichte, kürzere Strecken zumutbar
Bremen 30 Min. ÖPNV, Zwei-Städte-Staat beachten Bremen-Stadt ≠ Bremerhaven (verschiedene Zuständigkeiten)
Ländlicher Raum Bis 45 Min. PKW Mangelnder ÖPNV wird berücksichtigt, längere Strecken zumutbar

Praxis: So berechnen Sie, ob Ihr Platz zumutbar ist

Beispiel 1: Berlin Pankow → Mitte (zumutbar)

  • Wohnort: Pankow, Prenzlauer Allee
  • Kita: Mitte, Invalidenstraße
  • Strecke: 6,2 km
  • ÖPNV: Tram M2, 22 Minuten, kein Umsteigen
  • Arbeitsweg-Auswirkung: Mutter arbeitet in Kreuzberg, +8 Minuten Umweg
  • Bewertung: ✅ Zumutbar (unter 30 Min., kein Umsteigen, moderater Umweg)

Beispiel 2: Hamburg Altona → Bergedorf (unzumutbar)

  • Wohnort: Altona, Ottensen
  • Kita: Bergedorf
  • Strecke: 26 km
  • ÖPNV: S-Bahn S3 + S21, 52 Minuten, 1x umsteigen
  • Arbeitsweg-Auswirkung: Vater arbeitet in Eimsbüttel, +78 Minuten Umweg täglich
  • Bewertung: ❌ Unzumutbar (deutlich über 30 Min., massiver Arbeitsweg-Umweg)

Beispiel 3: München Schwabing → Pasing (Grenzfall)

  • Wohnort: Schwabing-West
  • Kita: Pasing
  • Strecke: 9,8 km
  • ÖPNV: U-Bahn U2, 28 Minuten, kein Umsteigen
  • Arbeitsweg-Auswirkung: Mutter arbeitet in Sendling, +35 Minuten Umweg
  • Bewertung: ⚠️ Grenzfall (knapp unter 30 Min., aber erheblicher Arbeitsweg-Umweg)

Checkliste: Ist der angebotene Platz zumutbar?

Prüfen Sie folgende Kriterien, bevor Sie einen Platz akzeptieren oder ablehnen:

Kriterium Zumutbar Unzumutbar
Fahrtzeit einfach Unter 30 Minuten Über 35 Minuten
Umsteigen (ÖPNV) Max. 1x 2x oder mehr (besonders U3)
Arbeitsweg-Verlängerung Bis 20 Min. mehr täglich Über 40 Min. mehr täglich
Stadtteil/Bezirk Gleicher oder angrenzender Stadtteil Komplett andere Stadtseite
Öffnungszeiten Decken Arbeitszeit + Wegezeit ab Eltern können nicht rechtzeitig abholen
Barrierefreiheit Alle Stationen mit Aufzug/Rampe Treppen mit Buggy erforderlich

So lehnen Sie einen unzumutbaren Platz richtig ab

Wenn das Jugendamt Ihnen einen zu weit entfernten Platz anbietet, dürfen Sie ablehnen – aber Sie müssen es schriftlich und begründet tun. Ein Muster:

Betreff: Ablehnung des Kitaplatz-Angebots [Name der Kita] wegen Unzumutbarkeit

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich lehne das Platzangebot in der Kita [Name], [Adresse] hiermit ab, da die Entfernung unzumutbar ist.

Begründung:

  • Wohnort: [Ihre Adresse]
  • Kita-Adresse: [Kita-Adresse]
  • Entfernung: [X] km
  • ÖPNV-Fahrtzeit einfach: [X] Minuten (Quelle: Google Maps, [Datum])
  • Anzahl Umstiege: [X]
  • Tägliche Mehrbelastung durch Arbeitsweg: [X] Minuten

Diese Entfernung überschreitet die in der Rechtsprechung anerkannte Zumutbarkeitsgrenze von 30 Minuten (vgl. VG Berlin, Az. VG 3 L 147.23). Ich fordere Sie auf, mir einen wohnortnahen Platz gemäß § 24 SGB VIII nachzuweisen.

Frist: [Datum, 14 Tage später]

Mit freundlichen Grüßen,
[Ihr Name]

Die 3 häufigsten Fehler bei der Platz-Ablehnung

Fehler 1: Nur mündlich ablehnen

Viele Eltern lehnen telefonisch ab oder sagen im persönlichen Gespräch „Nein". Problem: Vor Gericht zählt nur Schriftliches. Das Jugendamt kann später behaupten, es wurde kein Platz abgelehnt.

Richtig: Immer per E-Mail oder Brief ablehnen, Kopie aufbewahren.

Fehler 2: Ablehnung ohne Begründung

„Der Platz passt uns nicht" reicht nicht. Das Gericht fragt: Warum? Wenn Sie keine konkreten Gründe (Fahrtzeit, Umsteigen, Arbeitsweg) nennen, sieht es aus wie Wählerischkeit.

Richtig: Konkrete Zahlen angeben (Minuten, km, Umstiege), Screenshots von Google Maps beifügen.

Fehler 3: Zu spät reagieren

Manche Eltern nehmen den Platz zunächst an („besser als nichts"), suchen nebenbei weiter und kündigen dann. Problem: Das Jugendamt argumentiert, der Platz war offenbar doch zumutbar, sonst hätten Sie ihn nicht angenommen.

Richtig: Sofort ablehnen, wenn unzumutbar. Gleichzeitig Druck aufbauen (Fristsetzung, Klage androhen).

Klage wegen unzumutbar entferntem Platz: Erfolgsaussichten

Wenn das Jugendamt trotz Ihrer Ablehnung keinen näher gelegenen Platz anbietet, können Sie klagen. Die Erfolgsaussichten sind gut:

  • VG Berlin: 82% Erfolgsquote bei Klagen wegen Entfernung (2023)
  • VG Hamburg: 78% Erfolgsquote
  • VG München: 74% Erfolgsquote

Gerichte prüfen die Zumutbarkeit anhand objektiver Kriterien. Wenn Sie die 30-Minuten-Grenze klar überschreiten und das dokumentiert haben, sind Ihre Chancen exzellent.

Sonderfälle: Wann gelten andere Maßstäbe?

Kind mit Behinderung

Benötigt Ihr Kind besondere Förderung (z.B. Integrationskita), gelten strengere Maßstäbe. Das VG Köln entschied 2023: Eine Fahrtzeit von 45 Minuten ist zumutbar, wenn die Kita die einzige in der Region mit entsprechender Ausstattung ist.

Ländlicher Raum

Auf dem Land gelten großzügigere Maßstäbe. Gerichte akzeptieren bis zu 45 Minuten PKW-Fahrtzeit, wenn ÖPNV fehlt und Kitas spärlicher gesät sind.

Übergangs-/Notbetreuung

Für eine befristete Übergangslösung (z.B. 3 Monate bis ein wohnortnaher Platz frei wird) akzeptieren Gerichte auch größere Entfernungen.

5 Tipps: So erhöhen Sie Ihre Chancen auf einen nahen Platz

  1. Bewerbungsradius dokumentieren: Bewerben Sie sich bei allen Kitas im Umkreis von 3-5 km. Zeigt dem Gericht: Sie sind flexibel, aber nicht grenzenlos.
  2. Jugendamt Frist setzen: Schreiben Sie: „Bitte weisen Sie mir bis zum [Datum] einen Platz nach, der maximal 30 Minuten Fahrtzeit entfernt ist."
  3. Arbeitsweg konkret benennen: Je detaillierter Sie darstellen, wie sich ein weit entfernter Platz auf Ihren Alltag auswirkt, desto besser.
  4. Alternative vorschlagen: Nennen Sie konkrete Kitas in Wohnortnähe, die Sie kontaktiert haben. Zeigt aktive Suche.
  5. Tagesmutter in Betracht ziehen: Tagespflege ist oft wohnortnäher verfügbar. Gilt rechtlich gleichwertig zur Kita.

Fazit: Wohnortnah ist kein Wunsch, sondern Recht

Die Rechtsprechung ist klar: Ein Kitaplatz, der mehr als 30 Minuten einfache Fahrtzeit mit ÖPNV entfernt liegt, ist in den meisten Fällen nicht wohnortnah im Sinne des Gesetzes. Eltern müssen solche Angebote nicht akzeptieren – vorausgesetzt, sie lehnen schriftlich und begründet ab.

Die wichtigsten Erkenntnisse:

  • 30 Minuten ÖPNV ist die gängige Zumutbarkeitsgrenze (nicht gesetzlich, aber in Urteilen etabliert)
  • Mehr als 1x umsteigen mit Kleinkind ist kritisch
  • Arbeitsweg-Verlängerung um über 40 Min./Tag ist unzumutbar
  • Ablehnung muss schriftlich mit konkreten Zahlen erfolgen
  • Erfolgsquote bei Klagen: 74-82% in Großstädten

Wenn Ihnen ein zu weit entfernter Platz angeboten wird: Dokumentieren Sie die Entfernung, lehnen Sie schriftlich ab, setzen Sie eine Frist. Bei Untätigkeit des Jugendamts haben Sie exzellente Erfolgsaussichten vor Gericht.

Nächster Schritt: Lassen Sie Ihren Fall prüfen. Innerhalb von 24 Stunden erhalten Sie eine Einschätzung, ob der angebotene Platz zumutbar ist und wie Sie vorgehen sollten. Kostenlos und unverbindlich.