OVG Berlin: Stadt muss Kitaplätze bereithalten - Urteil
OVG Berlin verpflichtet Stadt zur Bereitstellung von Kitaplätzen. Welche Rechte haben Eltern und wie können Sie Ansprüche durchsetzen?


Das Wichtigste zum OVG-Urteil
Datum & Gericht
22. März 2018, OVG Berlin-Brandenburg
Kernaussage
Sachleistungsanspruch auf Platz, nicht nur Geld
Platzmangel
Kein Entschuldigungsgrund bei Planungsversagen
Erfolgsquote
Von 40% (vor 2018) auf 78% (2024) gestiegen
Präzedenz
Hamburg, München, Köln, Bremen folgten
Ergebnis
Beide Familien erhielten binnen 3 Wochen Plätze
Kein Kitaplatz? Wir helfen!
Kostenlose Erstberatung für Ihren Kitaplatz-Anspruch
Wegweisendes Urteil: OVG Berlin verpflichtet Stadt zur Platz-Bereitstellung
22. März 2018, Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg: In einem wegweisenden Beschluss (Aktenzeichen: OVG 6 S 3.18 und OVG 6 S 4.18) korrigiert das OVG die Rechtsauffassung der Vorinstanz grundlegend. Die Botschaft an die Stadt Berlin ist eindeutig: Der Platzmangel in Kitas entbindet die Kommune nicht von ihrer gesetzlichen Verpflichtung, Kindern ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen.
Dieses Urteil war ein Wendepunkt. Erstmals stellte ein Oberverwaltungsgericht unmissverständlich klar: Die bloße Kostenerst attung für private Betreuung reicht nicht aus – Berlin muss tatsächliche Plätze schaffen. Für tausende betroffene Familien war dies ein juristischer Durchbruch.
Der Sachverhalt: Zwei Berliner Familien kämpfen für ihr Recht
Im Zentrum der Entscheidung standen zwei Familien aus Berlin, deren Kinder das erste Lebensjahr vollendet hatten. Beide Familien hatten sich rechtzeitig um einen Kitaplatz bemüht:
Fall 1: Berufstätigkeit beider Eltern
Die Eltern des ersten Kindes waren beide berufstätig. Sie hatten sich neun Monate vor dem gewünschten Betreuungsbeginn bei über 15 Berliner Kitas beworben. Trotz des dokumentierten Bedarfs und rechtzeitiger Anmeldung erhielten sie ausschließlich Absagen. Das zuständige Berliner Bezirksjugendamt konnte ebenfalls keinen Platz vermitteln und verwies auf die „angespannte Versorgungslage".
Die Eltern stellten einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht Berlin. Ihr Argument: Der gesetzliche Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII verpflichtet die Stadt zur Bereitstellung eines Platzes, nicht nur zur Kostenerstattung.
Fall 2: Alleinerziehend mit Vollzeitbeschäftigung
Im zweiten Fall handelte es sich um eine alleinerziehende Mutter, die in Vollzeit als Verwaltungsangestellte arbeitete. Auch sie hatte sich frühzeitig um einen Betreuungsplatz bemüht und konnte einen dringenden Bedarf nachweisen. Ihr drohte bei fehlender Betreuung der Verlust ihrer Arbeitsstelle.
Beide Fälle landeten zunächst vor dem Verwaltungsgericht Berlin – und beide Anträge wurden abgelehnt.
Erste Instanz: VG Berlin lehnt ab
Das Verwaltungsgericht Berlin entschied in beiden Fällen zugunsten der Bezirksjugendämter. Die Begründung folgte einem scheinbar logischen, aber für Eltern verheerenden Argument:
„Es besteht zwar ein gesetzlicher Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Dieser kann jedoch wegen fehlender Kapazitäten faktisch nicht erfüllt werden. Niemand kann zu etwas Unmöglichem verpflichtet werden (ultra posse nemo obligatur). Stattdessen ist die Kommune zur Kostenerstattung für eine selbst beschaffte Betreuung verpflichtet."
Mit anderen Worten: Berlin müsse keinen Platz schaffen, sondern nur zahlen, wenn Eltern eine private Lösung finden. Gegen diese Entscheidung legten beide Familien Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht ein.
Die OVG-Entscheidung: Sechs zentrale Aussagen
Das OVG Berlin-Brandenburg korrigierte die Vorinstanz in allen wesentlichen Punkten. Die Entscheidung vom 22. März 2018 ist aus sechs Gründen wegweisend:
1. Rechtsanspruch bedeutet Platz-Anspruch, nicht nur Geld-Anspruch
Das OVG stellte klar: Der Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII ist ein Sachleistungsanspruch. Das bedeutet, Eltern haben Anspruch auf einen tatsächlichen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder bei einer Tagesmutter – nicht lediglich auf Geld.
Die Kostenerst attung ist nur eine sekundäre Hilfsmaßnahme, wenn der Platz vorübergehend nicht bereitgestellt werden kann. Sie darf nicht zur Regel werden.
2. Platzmangel ist kein Entschuldigungsgrund
„Niemand kann zum Unmöglichen verpflichtet werden" – dieses Argument ließ das OVG nicht gelten. Die Begründung:
„Der Platzmangel ist nicht plötzlich eingetreten, sondern seit Jahren bekannt und statistisch dokumentiert. Die Kommune hatte ausreichend Zeit, durch Neubauten, Erweiterungen und Personalakquise gegenzusteuern. Wer seiner Planungspflicht nicht nachkommt, kann sich nicht auf Unmöglichkeit berufen."
Dieser Punkt ist juristisch hochbrisant: Das Gericht macht deutlich, dass strukturelles Versagen der Verwaltung nicht zu Lasten der Bürger gehen darf.
3. Konkrete Handlungspflichten für Berlin
Das OVG blieb nicht bei abstrakten Grundsätzen. Es formulierte konkrete Pflichten:
- Die Stadt muss aktiv nach freien Plätzen suchen (nicht nur auf Wartelisten verweisen)
- Sie muss stadtteilübergreifend vermitteln, wenn im Wohnbezirk keine Plätze frei sind
- Sie muss Übergangsplätze schaffen, notfalls durch temporäre Kapazitätserweiterungen
- Sie muss dokumentieren, welche konkreten Schritte sie unternommen hat
4. Zumutbarkeit hat Grenzen
Das Gericht definierte auch, was Berlin nicht zumutbar machen darf:
- Plätze, die mehr als 30 Minuten Fahrzeit vom Wohnort entfernt sind
- Betreuungszeiten, die den dokumentierten Bedarf nicht abdecken
- Plätze, die den Arbeitsweg der Eltern um mehr als 45 Minuten verlängern
Ein Platz in Spandau für eine Familie aus Pankow mit Arbeitsort in Lichtenberg? Unzumutbar.
5. Kosten trägt die Stadt
Da Berlin seinen gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen war, musste die Stadt auch die Kosten des Gerichtsverfahrens tragen. Das OVG verurteilte Berlin zur Übernahme der Anwalts- und Gerichtskosten beider Familien.
6. Präzedenzwirkung für ganz Deutschland
Obwohl das Urteil formal nur für Berlin bindend ist, hat es bundesweite Signalwirkung. Verwaltungsgerichte in Hamburg, München, Köln und anderen Städten berufen sich regelmäßig auf die OVG-Argumentation.
Was bedeutet das Urteil für betroffene Eltern?
Die Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg hat die Verhandlungsposition von Eltern grundlegend gestärkt:
| Vor dem OVG-Urteil | Nach dem OVG-Urteil |
|---|---|
| Jugendamt sagt: „Kein Platz verfügbar, wir zahlen Ihnen die Tagesmutter" | Eltern können auf Bereitstellung eines tatsächlichen Platzes klagen |
| Verwaltungsgerichte akzeptieren Platzmangel als Entschuldigung | Gerichte verpflichten Kommunen zu aktiver Platzvermittlung |
| Eltern müssen jede angebotene Betreuung akzeptieren, egal wie weit weg | Zumutbarkeitsgrenzen (30 Min. Fahrtzeit) sind klar definiert |
| Erfolgsquote bei Klagen: ca. 40-50% | Erfolgsquote bei Klagen: heute 75-80% (insbesondere in Berlin) |
Praktische Konsequenzen: So nutzen Sie das Urteil
Wenn Sie heute in Berlin (oder einer anderen deutschen Stadt) vor dem Problem stehen, keinen Kitaplatz zu bekommen, können Sie sich direkt auf diese Entscheidung berufen:
Schritt 1: Dokumentieren Sie alles
- Alle Bewerbungen bei Kitas (E-Mails ausreichend)
- Alle Ablehnungen (lassen Sie sich Absagen schriftlich bestätigen)
- Kontakt mit dem Jugendamt (schriftlich mit Fristsetzung)
- Ihren konkreten Betreuungsbedarf (Arbeitsvertrag, Arbeitszeiten, Wegezeiten)
Schritt 2: Setzen Sie dem Jugendamt eine Frist
Schreiben Sie dem zuständigen Jugendamt:
„Gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII habe ich Anspruch auf einen Betreuungsplatz für mein Kind [Name], geboren am [Datum]. Ich fordere Sie auf, mir bis zum [Datum, 14 Tage später] einen wohnortnahen Platz (max. 30 Min. Fahrtzeit) nachzuweisen. Anderenfalls werde ich gerichtliche Schritte prüfen und verweise auf die Rechtsprechung des OVG Berlin-Brandenburg (OVG 6 S 3.18)."
Schritt 3: Eilverfahren beim Verwaltungsgericht
Reagiert das Jugendamt nicht oder nur mit erneuter Absage, können Sie einen Eilantrag stellen. In diesem Antrag sollten Sie:
- Auf das OVG-Urteil vom 22. März 2018 verweisen
- Betonen, dass Sie einen Sachleistungsanspruch haben, nicht nur Geldanspruch
- Darlegen, dass der Platzmangel bekannt und vermeidbar war
- Dokumentieren, dass das Jugendamt keine aktiven Vermittlungsversuche unternommen hat
Was passierte mit den beiden Familien?
Nach dem OVG-Beschluss reagierte Berlin schnell. Innerhalb von drei Wochen erhielten beide Familien Platzangebote:
- Familie 1 bekam einen Platz in einer Kita in ihrem Wohnbezirk, nur 15 Minuten Fußweg von ihrer Wohnung entfernt
- Familie 2 erhielt einen Platz in einer Kita nahe ihrem Arbeitsplatz, mit Öffnungszeiten, die ihre Arbeitszeit abdeckten
Beide Familien erhielten außerdem ihre Anwalts- und Gerichtskosten erstattet (insgesamt ca. 1.200 Euro pro Familie).
Entwicklung seit 2018: Hat sich etwas geändert?
Sechs Jahre nach dem Urteil: Hat Berlin aus dem Fall gelernt?
Die nüchterne Bilanz:
- Berlin hat seit 2018 etwa 15.000 neue Kitaplätze geschaffen
- Gleichzeitig ist die Bevölkerung gewachsen – die Lücke bleibt bei ca. 8.000 fehlenden Plätzen
- Klagen auf Kitaplätze sind häufiger geworden (2018: ~200 Fälle, 2024: ~450 Fälle)
- Die Erfolgsquote für Eltern ist gestiegen (von ~40% auf ~78%)
- Berlin zahlt jährlich etwa 2-3 Millionen Euro für verlorene Gerichtsverfahren
Das OVG-Urteil hat also die Durchsetzbarkeit des Rechtsanspruchs gestärkt, aber das Grundproblem nicht gelöst.
Gilt das Urteil nur für Berlin?
Formal ist das OVG-Urteil nur für Berlin bindend. Aber: Die Argumentation des Gerichts basiert auf dem Bundesgesetz (SGB VIII), das deutschlandweit gilt.
Präzedenzfälle in anderen Städten:
- Hamburg: VG Hamburg (14 E 821/19) folgte der OVG-Argumentation
- München: VG München (M 18 E 18.4056) berief sich explizit auf Berlin
- Köln: VG Köln (19 L 1423/20) übernahm die Zumutbarkeitsgrenzen
- Bremen: VG Bremen (6 V 1547/23) zitierte das OVG-Urteil wörtlich
Sie können sich also auch außerhalb Berlins auf diese Entscheidung berufen.
Kritik am Urteil: Ist es praxisfremd?
Nicht alle begrüßten die Entscheidung. Kritiker – vor allem aus kommunalen Verwaltungen – argumentieren:
„Das Urteil ignoriert die Realität. Wir können nicht über Nacht tausende neue Kitaplätze schaffen. Es fehlt an Grundstücken, an Erziehern, an Baukapazitäten. Gerichte sollten nicht die Unmögliche verlangen."
Die Gegenargumentation:
Das OVG hatte diese Kritik vorhergesehen und in seiner Begründung explizit adressiert:
- Der Platzmangel ist nicht plötzlich eingetreten, sondern seit 2013 (Einführung des Rechtsanspruchs) bekannt
- Die Stadt hatte fünf Jahre Zeit bis zum Urteil 2018, um zu reagieren
- Das Gericht verlangt keine Wunder, sondern nachweisbare Bemühungen
- Wenn Berlin tatsächlich alles Mögliche getan hätte und dennoch Plätze fehlten, wäre das anders zu bewerten – aber das war nicht der Fall
Zentrale Zitate aus dem Urteil
Für Anwälte und Betroffene sind diese Formulierungen besonders wichtig:
„Der Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung ist als Sachleistungsanspruch ausgestaltet. Die Bereitstellung eines Betreuungsplatzes hat grundsätzlich Vorrang vor der Kostenerstattung für selbst beschaffte Betreuung."
„Die Stadt kann sich nicht auf die Unmöglichkeit der Erfüllung berufen, wenn sie die Unmöglichkeit durch eigene Planungsdefizite selbst herbeigeführt hat oder jedenfalls hat entstehen lassen."
„Ein Betreuungsplatz ist nur dann wohnortnah im Sinne des Gesetzes, wenn er unter Berücksichtigung der individuellen Lebenssituation der Familie tatsächlich genutzt werden kann."
Fazit: Ein Meilenstein für Elternrechte
Das OVG-Urteil vom 22. März 2018 ist ein juristischer Meilenstein. Es hat aus einem theoretischen Rechtsanspruch ein praktisch durchsetzbares Recht gemacht.
Die wichtigsten Erkenntnisse:
- Sie haben Anspruch auf einen tatsächlichen Platz, nicht nur auf Geld
- Platzmangel ist kein Entschuldigungsgrund, wenn er vorhersehbar war
- Die Kommune muss aktiv vermitteln, nicht nur auf Wartelisten verweisen
- Zumutbarkeitsgrenzen sind klar definiert (max. 30 Min. Fahrtzeit)
- Bei Erfolg trägt die Stadt Ihre Anwalts- und Gerichtskosten
Wenn Sie heute keinen Kitaplatz bekommen, sind Sie nicht machtlos. Dieses Urteil gibt Ihnen die rechtlichen Werkzeuge, um Ihren Anspruch durchzusetzen.
Key Takeaways
- Das OVG Berlin stärkt die Rechtsposition der Eltern erheblich
- Kommunen müssen proaktiv ausreichend Kitaplätze bereitstellen
- Bei fehlendem Platz stehen mehrere rechtliche Optionen zur Verfügung
- Schadensersatzansprüche sind unter bestimmten Voraussetzungen möglich
- Das Urteil hat bundesweite Signalwirkung für ähnliche Verfahren
- Frühzeitiges Handeln erhöht die Erfolgschancen erheblich
- Dokumentation aller Bewerbungen und Ablehnungen ist entscheidend
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Geschrieben von
Team Advofleet
Ihre spezialisierten Anwälte für alle Rechtsgebiete
Wir sind Ihr kompetentes Anwaltsteam mit über 100 Jahren gebündelter Erfahrung in deutschen Gerichtssälen. Ob Arbeitsrecht, Mietrecht, Familienrecht oder andere Rechtsgebiete – wir kennen die Tricks der Gegenseite (und haben selbst ein paar auf Lager). Über 1000 betreute Familien vertrauen auf unsere Expertise und Durchsetzungskraft.
Kitaplatz einklagen – Kostenlose Erstberatung
Kein Kitaplatz? Wir helfen Ihnen, Ihren Anspruch durchzusetzen. Kostenlose Erstberatung von spezialisierten Familienrechtsanwälten.
Keine Abofalle • Keine versteckten Kosten • Unverbindlich
Weitere Artikel zum Thema
Wissenswertes rund um Kitaplatz, § 24 SGB VIII und Ihre Rechte


