OVG Berlin: Entscheidung zur Kita-Platz Erreichbarkeit
OVG Berlin präzisiert Erreichbarkeits-Kriterien für Kita-Plätze. Welche Distanzen zumutbar sind und wie Sie Ihren Rechtsanspruch durchsetzen.


Das Wichtigste zum OVG-Urteil Erreichbarkeit
Datum & Gericht
12. Dezember 2018, OVG Berlin-Brandenburg (Az. 6 S 73.18)
Kernaussage
Kumulative Belastungen müssen berücksichtigt werden
Fall
Familie mit 3 Kindern, Platz 36-46 Min. entfernt, unzumutbar
Wichtiger Grundsatz
Gesamtsituation entscheidet, nicht nur Fahrtzeit
Beweislast
Kommune muss nachweisen, dass kein näherer Platz existiert
Folge für Eltern
Stärkere Position bei mehreren Kindern + Berufstätigkeit
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OVG Berlin 12.12.2018: Wann ist ein Kitaplatz „erreichbar"?
12. Dezember 2018, Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg: In einem Beschluss (Aktenzeichen: OVG 6 S 73.18) präzisiert das OVG, was „erreichbar" im Sinne des Betreuungsanspruchs bedeutet. Die zentrale Frage: Muss eine Familie einen Kitaplatz akzeptieren, der 36 bis 46 Minuten Fahrtzeit entfernt liegt – zusätzlich zu zwei weiteren Kindern in anderen Einrichtungen?
Die Antwort des Gerichts: Nein. Aber mit wichtigen Differenzierungen. Diese Entscheidung ist deshalb so bedeutend, weil sie nicht isoliert auf die Fahrtzeit schaut, sondern die Gesamtbelastung der Familie berücksichtigt. Ein Grundsatz, der bis heute nachwirkt.
Der Sachverhalt: Eine Familie mit drei Kindern
Die Familie aus Berlin hatte drei Kinder. Das jüngste, die Antragstellerin, war drei Jahre alt und hatte Anspruch auf einen Kitaplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Die beiden älteren Geschwister waren bereits in anderen Einrichtungen untergebracht – an unterschiedlichen Orten.
Die Problemstellung
Das Berliner Jugendamt bot der Familie einen Kitaplatz für die Dreijährige an. Dieser Platz lag jedoch:
- Nicht in Wohnortnähe
- Nicht auf dem Arbeitsweg der Eltern
- 36 bis 46 Minuten Fahrtzeit vom Wohnort entfernt (mit ÖPNV)
- In eine völlig andere Richtung als die Kitas der Geschwisterkinder
Die Eltern waren beide vollzeitberufstätig. Ihr Tagesablauf sah so aus: Kind 1 zur Kita bringen (Stadtteil A), Kind 2 zur Kita bringen (Stadtteil B), Kind 3 zur angebotenen Kita bringen (Stadtteil C, 36-46 Min. entfernt), dann zur Arbeit. Abends in umgekehrter Reihenfolge. Gesamte tägliche Pendelzeit: Über drei Stunden – nur für Kita-Bringen und -Abholen.
Die Familie lehnte den Platz ab und beantragte beim Verwaltungsgericht Berlin eine einstweilige Anordnung: Das Jugendamt solle verpflichtet werden, einen wohnortnahen Platz bereitzustellen.
Erste Instanz: VG Berlin lehnt ab
Das Verwaltungsgericht Berlin wies den Antrag in erster Instanz ab. Die Begründung:
„Ein Rechtsanspruch auf einen Platz in einer konkreten Wunsch-Einrichtung besteht nicht. Der angebotene Platz ist zwar zeitlich aufwendig zu erreichen, aber nicht grundsätzlich unzumutbar. Die Familie hat nicht nachgewiesen, dass der Platz tatsächlich unmöglich zu nutzen wäre."
Das VG Berlin sah also: 36-46 Minuten sind viel, aber noch im Rahmen. Die Familie legte Beschwerde beim OVG ein.
Die OVG-Entscheidung: 5 zentrale Aussagen
1. Kein Anspruch auf Wunsch-Kita – aber auf wohnortnahen Platz
Das OVG bestätigte zunächst: Es gibt keinen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer bestimmten Kita. Eltern können nicht einklagen: „Ich will genau in die Kita Sonnenblume."
Aber: Es gibt sehr wohl einen Anspruch auf einen wohnortnahen, erreichbaren Platz. Das OVG zitierte § 24 Abs. 3 SGB VIII und betonte: Der Gesetzgeber spricht von „Förderung in einer Tageseinrichtung" – nicht von irgendeiner beliebigen Einrichtung irgendwo in der Stadt.
2. Kumulative Belastung muss berücksichtigt werden
Das OVG machte klar: Man kann die Fahrtzeit nicht isoliert betrachten. Im konkreten Fall kam zusammen:
- Zwei weitere Geschwisterkinder in anderen Kitas
- Vollzeitberufstätigkeit beider Eltern
- Der neue Platz lag in entgegengesetzter Richtung zu den anderen Kitas
- Gesamtbelastung durch tägliches Bringen/Holen: Über drei Stunden
Das Gericht formulierte einen wichtigen Grundsatz:
„Die Zumutbarkeit eines Betreuungsplatzes bemisst sich nicht allein nach der Entfernung, sondern nach der Gesamtheit der Umstände der konkreten Familie. Kumulative Belastungen durch mehrere Kinder, Berufstätigkeit und ungünstige Verkehrsanbindung können dazu führen, dass ein Platz unzumutbar ist, obwohl er für sich genommen noch im Rahmen des Vertretbaren läge."
3. Was bedeutet „wohnortnah"?
Das OVG definierte „wohnortnah" nicht als feste Kilometerzahl, sondern anhand praktischer Kriterien:
- Erreichbarkeit mit ÖPNV in zumutbarer Zeit (Orientierung: 30 Minuten)
- Vereinbarkeit mit Berufstätigkeit der Eltern
- Möglichkeit, Arbeitszeiten einzuhalten trotz Bring-/Holzeiten
- Bei mehreren Kindern: Möglichkeit, alle Kinder logistisch zu koordinieren
4. Kommune trägt Beweislast
Ein wichtiger prozessualer Punkt: Wenn das Jugendamt behauptet, es gebe keinen näheren Platz, muss es das nachweisen. Die Familie muss nicht beweisen, dass ein näherer Platz existiert – das Jugendamt muss belegen, dass es keinen gibt.
Im konkreten Fall konnte das Jugendamt dies nicht überzeugend darlegen. Das OVG vermutete, dass durchaus näher gelegene Plätze hätten vermittelt werden können, wenn das Jugendamt aktiv gesucht hätte.
5. Ablehnung des Wunschplatzes, aber Verpflichtung zur Vermittlung
Das OVG gab der Familie teilweise recht:
Abgelehnt: Anspruch auf Platz in der konkreten Wunsch-Kita
Bestätigt: Anspruch auf einen wohnortnahen, zumutbar erreichbaren Platz
Verpflichtung: Das Jugendamt muss aktiv nach einem solchen Platz suchen
Was bedeutet das Urteil für betroffene Eltern?
Die Entscheidung von 2018 hat die Messlatte für Jugendämter höher gelegt. Folgende Konstellationen sind seitdem oft erfolgreich:
| Situation | Vor dem Urteil 2018 | Nach dem Urteil 2018 |
|---|---|---|
| Familie mit mehreren Kindern in verschiedenen Kitas | „Jedes Kind hat Anspruch auf einen Platz – egal wo" | Gesamtbelastung wird berücksichtigt, Koordination muss möglich sein |
| Vollzeitberufstätige Eltern mit langem Arbeitsweg | „30 Min. zur Kita sind zumutbar" | Arbeitsweg + Kita-Weg dürfen Arbeitszeiten nicht unmöglich machen |
| Platz weit entfernt, aber theoretisch erreichbar | „Erreichbar = ausreichend" | Praktische Nutzbarkeit entscheidet, nicht theoretische Erreichbarkeit |
| Beweislast für fehlende nähere Plätze | Eltern müssen beweisen, dass es nähere Plätze gibt | Kommune muss nachweisen, dass es keine näheren Plätze gibt |
Praktische Anwendung: So argumentieren Sie vor Gericht
Wenn Sie sich auf dieses Urteil berufen wollen, sollten Sie folgende Punkte dokumentieren:
1. Kumulative Belastungen auflisten
Erstellen Sie eine Tabelle Ihres typischen Tagesablaufs:
- 6:30 Uhr: Aufstehen
- 7:00 Uhr: Kind 1 zur Kita A bringen (20 Min.)
- 7:30 Uhr: Kind 2 zur Kita B bringen (25 Min.)
- 8:15 Uhr: Kind 3 zu angebotenem Platz Kita C bringen (40 Min.)
- 9:00 Uhr: Zur Arbeit (30 Min.)
- 9:30 Uhr: Arbeitsbeginn (30 Min. verspätet)
Zeigen Sie: Mit dem angebotenen Platz ist pünktlicher Arbeitsbeginn unmöglich.
2. Fahrtzeiten konkret nachweisen
- Screenshots von Google Maps/BVG-App mit Fahrtzeiten
- An verschiedenen Wochentagen und Uhrzeiten (Rushhour vs. normale Zeiten)
- Mit und ohne Verspätungen/Ausfälle
3. Arbeitszeiten belegen
- Arbeitgeberbescheinigung mit festen Arbeitszeiten
- Bei flexiblen Zeiten: Dokumentation, dass trotz Flexibilität Kernarbeitszeit eingehalten werden muss
- Konsequenzen bei Verspätung (Abmahnung, Kündigung)
4. Geschwisterkinder benennen
- Namen, Alter, Kita-Standorte der Geschwister
- Bring-/Holzeiten der Geschwister
- Gesamtübersicht: Tägliche Wegstrecke für alle Kinder
Folgeentscheidungen: Wie haben andere Gerichte reagiert?
Das OVG-Urteil von 2018 hatte Signalwirkung. Verwaltungsgerichte anderer Bundesländer haben die Argumentation übernommen:
VG Hamburg 2020 (Az. 7 E 1245/19)
Familie mit zwei Kindern, angebotener Platz 42 Minuten entfernt, beide Eltern alleinerziehend (getrennt lebend). Das VG Hamburg folgte der OVG-Logik: Bei alleinerziehendem Elternteil ist die Belastung noch höher, da keine Aufgabenteilung möglich. Platz unzumutbar.
VG München 2021 (Az. M 18 E 20.5892)
Mutter mit Zwillingen, angebotener Platz nur für ein Kind in Wohnortnähe, für das andere Kind 50 Minuten entfernt. VG München: Zwillinge haben Anspruch auf Plätze in derselben oder zumindest nahegelegenen Einrichtungen. Kumulative Belastung durch getrennte Unterbringung unzumutbar.
VG Köln 2022 (Az. 19 L 1892/21)
Drei Kinder, alle in unterschiedlichen Kitas, Gesamtpendelzeit täglich 2,5 Stunden. VG Köln verpflichtete die Stadt, mindestens zwei der drei Kinder in derselben Einrichtung unterzubringen.
Grenzen des Urteils: Wann hilft es nicht?
Das OVG-Urteil hilft nicht in jeder Situation. Grenzen:
1. Einzelkind ohne besondere Belastung
Wenn Sie nur ein Kind haben, keine besonderen Belastungen (z.B. Behinderung, Alleinerziehend) und der Platz 35 Minuten entfernt ist, wird das Urteil Ihnen vermutlich nicht helfen. Die kumulative Belastung fehlt.
2. Teilzeitbeschäftigung mit flexiblen Zeiten
Wenn Sie nur 20 Stunden/Woche arbeiten mit flexiblen Zeiten, argumentiert das Jugendamt: „Sie können Ihre Arbeitszeit so legen, dass der Platz erreichbar ist." Schwieriger zu widerlegen.
3. Geschwister sind bereits in der angebotenen Kita
Wenn Ihr älteres Kind bereits in der weit entfernten Kita ist und das jüngere dort auch einen Platz bekommt, ist das Argument der kumulativen Belastung weg. Im Gegenteil: Alle Kinder in einer Einrichtung ist sogar logistisch einfacher.
Fazit: Erreichbarkeit ist mehr als Fahrtzeit
Das OVG-Urteil vom 12. Dezember 2018 hat einen wichtigen Paradigmenwechsel eingeleitet: Erreichbarkeit ist keine rein technische Frage der Kilometer oder Minuten, sondern eine Frage der praktischen Nutzbarkeit unter Berücksichtigung der Gesamtsituation der Familie.
Die zentralen Erkenntnisse:
- Kumulative Belastungen (mehrere Kinder, Berufstätigkeit, weite Arbeitswege) müssen berücksichtigt werden
- „Wohnortnah" bedeutet nicht nur Entfernung, sondern auch Vereinbarkeit mit Alltag
- Kommune trägt Beweislast: Sie muss nachweisen, dass kein näherer Platz verfügbar ist
- Kein Anspruch auf konkrete Wunsch-Kita, aber auf einen zumutbar erreichbaren Platz
- Praktische Nutzbarkeit entscheidet, nicht theoretische Erreichbarkeit
Für Familien mit mehreren Kindern oder besonderen Belastungen ist dieses Urteil ein starkes Argument. Dokumentieren Sie Ihre Situation detailliert und berufen Sie sich konkret auf OVG 6 S 73.18.
Nächster Schritt: Prüfen Sie, ob Ihre Situation der des Urteils ähnelt. Wenn ja, haben Sie gute Chancen, einen näheren Platz durchzusetzen.
Key Takeaways
- Das OVG Berlin hat die Bewertungskriterien für die Erreichbarkeit von Kita-Plätzen präzisiert
- Die Zumutbarkeit bemisst sich nach Entfernung, Verkehrsanbindung und individuellen Umständen
- Eltern können unzumutbar weit entfernte Plätze rechtmäßig ablehnen
- Die Entscheidung stärkt die Position der Eltern in Verwaltungsverfahren
- Arbeitszeiten und familiäre Situation müssen bei der Platzvergabe berücksichtigt werden
- Kommunen müssen ihre Angebotsplanung entsprechend anpassen
- Die Rechtsprechung entwickelt sich zugunsten praxisnaher Lösungen weiter
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Geschrieben von
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